Wer über eine Wohngebäudeversicherung zum gleitenden Neuwert verfügt, kann den Neuwert auch dann verlangen, wenn die Aufwendungen für die Wiederherstellung des versicherten Gebäudes tatsächlich geringer als der vom Gutachter festgestellte Neuwert waren.
Der Fall
Das Gebäude der Versicherungsnehmerin wurde durch einen Brand zerstört. Ein Sachverständiger veranschlagte den Zeitwertschaden mit 232.931,97 Euro und den Neuwertschaden mit 360.295,03 Euro. Die Versicherung ersetzte 232.111,95 Euro, nicht aber die Differenz zum Neuwert.
Die Versicherungsnehmerin baute das Haus mit Hilfe von Angehörigen und Nachbarn wieder auf. Im Erdgeschoss wurde wie vor dem Brand eine Gaststätte eingerichtet; im Obergeschoss befinden sich statt der früheren drei Ein-Zimmer-Wohnungen zwei Zwei-Zimmer-Wohnungen. Nach Fertigstellung des Baus ermittelte der Gutachter Baukosten von 161.816,67 Euro sowie Aufräum- und Abbruchkosten von 17.097,11 Euro.
Die Versicherung lehnte die Zahlung der Neuwertspitze ab, weil die Versicherungsnehmerin nicht nachgewiesen habe, dass die Wiederherstellungskosten den Zeitwert übersteigen. Im Übrigen bliebe der Wiederaufbau nach Art, Qualität und Umfang hinter dem ursprünglichen Gebäude zurück.
Die Versicherungsnehmerin klagte daraufhin unter Verweis auf die in ihrer Wohngebäudeversicherung enthaltene „gleitende Neuwertklausel“ auf Zahlung des Neuwertanteils.
Die Entscheidung
Der Bundesgerichtshof (BGH) stellte klar, dass der Versicherungsnehmer einer Wohngebäudeversicherung zum gleitenden Neuwert die Neuwertentschädigung unabhängig davon beanspruchen könne, ob der tatsächliche Wiederherstellungsaufwand den abstrakt berechneten Neuwertschaden zumindest beinahe erreicht. Dies festzustellen, sei Sache des Tatrichters. Er müsse prognostizieren, dass bei vorausschauend-wertender Betrachtungsweise eine bestimmungsgemäße Verwendung der Entschädigung hinreichend sicher angenommen werden könne. Das sei z.B. nach Abschluss eines Bauvertrages oder eines Fertighauskaufvertrages mit einem Unternehmer anzunehmen. Sei das zerstörte Gebäude bereits in gleicher Art und Zweckbestimmung an der bisherigen Stelle wiederhergestellt worden, könne man grundsätzlich von einer Verwendung der Entschädigung zur Wiederherstellung ausgehen.
Der BGH verwies die Sache an das Berufungsgericht zurück. Es müsse feststellen, ob das wieder aufgebaute Gebäude nach Art und Zweckbestimmung dem abgebrannten Haus entspricht. Dabei sei zu beachten, dass eine Wiederherstellung nur dann angenommen werden könne, wenn das neu errichtete Gebäude etwa dieselbe Größe aufweist wie das zerstörte und gleichartigen Zwecken dient.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 20. Juli 2011, Az.: IV ZR 148/10
Kommentar
Auch für diesen Versicherungsfall gilt der Grundsatz, dass Versicherungsbedingungen aus der maßgeblichen Sicht eines durchschnittlichen, um Verständnis bemühten Versicherungsnehmers auszulegen sind. Danach entsteht der Anspruch auf Zahlung des Teils der Entschädigung, der den Zeitwertschaden übersteigt, soweit und sobald der Versicherungsnehmer innerhalb von drei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles sicherstellt, dass er mit der Entschädigung die versicherte Sachen in gleicher Art und Zweckbestimmung an der bisherigen Stelle wiederherstellt.
Mit der Neuwertversicherung soll der etwaige Schaden ausgeglichen werden, der dem Versicherungsnehmer dadurch entsteht, dass er einen höheren Betrag als den Zeitwert aufwenden muss, wenn er das zerstörte Gebäude wiederherstellt. Bleiben die Kosten des Wiederaufbaus später tatsächlich hinter dem von dem Gutachter festgelegten Neuwert zurück, kann der Versicherungsnehmer die Differenz – die „Neuwertspitze“ – gleichwohl behalten.